Zeit mit Milchschaum­haube

Ich lebe in einer Stadt voller Bürohochhäuser, Shopping Malls, Coffee Shops und meterhoher Kräne, die immer neue Riesenbaustellen überragen, die sich vergeblich hinter graffitybunten Bretterzäunen zu verstecken suchen. Es ist eine Stadt voller Menschen, die sich von unsichtbarer Hand gelenkt kreuz und quer durch die Quartiere bewegen, tausende Autos, Taxis und Busse, die geschäftig hin- und herfahren und scheinbar ständig in Bewegung sind.

Unterhalb dieser Großstadtmaschinerie, tief im Keller der Stadt, brausen Schnellbahnen durchs dunkle Tunnelröhrengeflecht. Sie sind das unterirdische Spiegelbild der oberirdischen Aktivität, das ganz eigenen Taktraten und Mechanismen folgt. Es verschmilzt immer nur dann für einen Moment mit der Welt oben, wenn Menschen vom einen in den anderen Kosmos überwechseln. Strikt von Fahrplänen getaktet treten beide Welten über hunderte Waggontüren und Drehkreuze mitein- ander in Kontakt: sie öffnen sich, lassen Fahrgäste aus- und einsteigen und gleich darauf schließen sie sich wieder.

Die Bewohner meiner Stadt teilen sich dabei in zwei Mentalitäten:

Es gibt die „nur-oben“-Menschen – Bus- und Autofahrer zumeist, die niemals in die Welt unter der Stadt wechseln. Und es gibt die „unten“- Menschen – sie allerdings finden immer wieder an die Oberfläche zurück. Ihre täglichen Wege legen sie unterirdisch zurück, steigen hinab in die neon- beleuchtete Unterwelt, um dann irgendwann am entgegengesetzten Ende der Stadt wieder ans Tageslicht zurückzukehren. Hier, an den Kreuzungs- punkten der zwei Welten – an den Ein- und Ausstiegen zum Untergrund – treffen die zwei Mentalitäten regelmäßig aufeinander. Hier stehen wie geheime Treffpunkte Hot Dog- oder Bratwurstbuden, vor allem aber Coffee Shops, in denen sie sich begegnen. Dies sind die wahren Schmelztiegel der modernen Metropolen: vom schnieken Geschäftsmann in Anzug und hochglanzpolierten Schuhen bis zum dreitagebärtig-übernächtigten Studenten in Jeans und T-Shirt, von Putzfrau bis Bankmanager, Telefontechniker bis Arzt oder Rechtsanwalt trifft sich hier alles im universellen Mikrokosmos von Kaffee und Lifestyle. Einige, weil sie es chic finden; die meisten, weil durch das überall-auf-der-Welt-gleich-Konzept eine Bestel- lung mit jedem Wissens- oder Fremdsprachengrad schnell und einfach möglich ist; viele, weil es einfach auf ihrem Weg liegt.

Hier also, im Coffee Shop, treffen alle Welten und Klischees meiner Stadt aufeinander: oben und unten, arm und reich, jung und alt … und ich sehe sie alle. Jeden Tag.

Ich arbeite in einem der belebtesten Coffee Shops nahe dem Hauptbahnhof, verschenke hunderte Male am Tag ein möglichst strahlendes Lächeln, eine freundliche Begrüßung und nehme Bestellungen entgegen, die ich mit Milchschaum verziere. Seit einem halben Jahr bin ich nun hier, und inzwischen kenne ich meine Stammkunden und ihre Wünsche in- und auswendig.

[ Fortsetzung im Buch]