Schutzengel gesucht!

Ein alter Mann betrachtete die Bilder in einer Galerie. Es waren Photographien, schwarz-weiße Aufnahmen, die alle eines gemeinsam hatten: sie zeigten menschliche Schatten. Große, kleine, je nach Sonnenstand gedehnte oder gestauchte Silhouetten mit Hüten oder Taschen, wehenden Kleidern oder Haaren.

Nie sah man die Menschen, denen diese Schatten gehörten – immer nur ihre Schatten. Sie lagen flach auf dem Asphalt, zogen sich an Häuserwänden empor oder ruhten verwinkelt auf Treppenstufen. Es waren Schatten auf Rasenflächen oder Sand, im Wasser oder auf Beton – viele hunderte von ihnen hatte der Photograph abgelichtet.

Lange Zeit verbrachte der alte Mann in der Galerie, bis er schließlich einen schmalen Erker betrat, in dem – umgeben von weiteren Schattenphotographien – zwei Sessel standen. Auf dem einen saß ein Mann, der ausgezehrt und müde wirkte. Er hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und den Kopf gesenkt – er betrachtete den Boden zu seinen Füßen und sah nicht auf, als der alte Mann nähertrat. Dieser setzte sich still in den anderen Sessel und betrachtete den Jüngeren eine Weile.

„Gefällt Ihnen die Ausstellung?“ sprach er ihn schließlich an, und der Mann sah erstaunt hoch.

„Wie bitte?“ 

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken“, fuhr der Alte fort. „Ich hatte Sie gefragt, ob Ihnen die Ausstellung gefällt.“

„Nein“, antwortete der Jüngere schnell und schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, keines der Bilder gefällt mir.“

„Und warum sind Sie dann hier?“

„Es ist meine Ausstellung“, seufzte der Mann und zuckte resigniert mit den Schultern.

[ Fortsetzung im Buch]